Sonntag, 16. Oktober 2016

Gestern hat mir ein lieber Freund (hallo MiRo) ein Gedicht geschickt, und dann auch noch von Heine. Möglichst vielen soll es zugänglich sein. Ich unterschreibe jede strophe.

Rückschau
Ich habe gerochen alle Gerüche
In dieser holden Erdenküche;
Was man genießen kann in der Welt,
Das hab ich genossen wie je ein Held!


Hab` Kaffee getrunken, hab` Kuchen gegessen,
Hab` manche schöne Puppe besessen;
Trug seid`ne Westen, den feinsten Frack,
Mir klingelten auch Dukaten im Sack.


Wie Gellert ritt ich auf hohem Ross;
Ich hatte ein Haus, ich hatte ein Schloss.
Ich lag auf der grünen Wiese des Glücks,
Die Sonne grüßte goldigsten Blicks;


Ein Lorbeerkranz umschloss die Stirn,
Er duftete Träume mir ins Gehirn,
Träume von Rosen und ewigem Mai —
Es ward mir so selig zu Sinne dabei,


So dämmersüchtig, so sterbefaul —
Mir flogen gebrat`ne Tauben ins Maul,
Und Englein kamen, und aus den Taschen
Sie zogen hervor Champagnerflaschen —


Das waren Visionen, Seifenblasen —
Sie platzten - Jetzt lieg` ich auf feuchtem Rasen,
Die Glieder sind mir rheumatisch gelähmt,
Und meine Seele ist tief beschämt.


Ach jede Lust, ach jeden Genuss
Hab ich erkauft durch herben Verdruss;
Ich ward getränkt mit Bitternissen
Und grausam von den Wanzen gebissen;


Ich ward bedrängt von schwarzen Sorgen,
Ich musste lügen, ich musste borgen
Bei reichen Buben und alten Vetteln —
Ich glaube sogar, ich musste betteln.


Jetzt bin ich müd` vom Rennen und Laufen,
Jetzt will ich mich im Grabe verschnaufen.
Lebt wohl! Dort oben, ihr christlichen Brüder,
Ja, das versteht sich, dort seh`n wir uns wieder.


Heinrich Heine, 1797-1856

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